In meinen Seminaren und Gesprächen betone ich immer wieder, das Hochsensibel-Sein nicht nur anstrengend ist, sondern auch prima Stärken hat. Gerade auch beim Umgang mit Krisen.
In gewisser Weise mag ich Krisen: sie brechen Gewohnheiten auf, sie ermöglichen Veränderung. Denn Krisen sind wie Wegkreuzungen: Situationen, in der man entweder nach links oder nach rechts gehen kann, aber Veränderung kommt so oder so. Es gibt große und kleine Krisen, kurze und länger andauernde, mit wenigen oder vielen Betroffenen … und immer stellt die Krise an uns die Frage: „Rennst du vor dieser Herausforderung weg, oder entscheidest du dich aktiv, ob du nach links oder rechts gehen möchtest?“ Wenn du wegrennst, wird die Entscheidung sich irgendwann automatisch ergeben – und wahrscheinlich wird sich das für dich nicht gut anfühlen.
Stell dir vor, du bist der Kapitän in einem Boot, das in einen großen Sturm gerät. Die Krisen-Frage ist: wird das Boot den Sturm aushalten? Wenn du von Angst total überwältigt bist (Panik), wirst du dich vielleicht einfach in deine Kajüte flüchten und abwarten, bis der Sturm vorbei ist. Aber wenn du die entsprechenden Kompetenzen gelernt hast, kannst du ein paar Dinge tun, um das Risiko zu minimieren: das Segel einholen, den Anker auswerfen, das Funkgerät bereithalten, …
So ähnlich kann man lernen, gut mit Lebenskrisen umzugehen. Und dabei haben Hochsensible super Startbedingungen. Warum?
1) Empathie ist für sie normal
Unser Gehirn hat eine faszinierende Funktion: wenn wir jemandem zuschauen, der sich weh tut, werden fast die gleichen Neuronen aktiv wie wenn wir den Schmerz selbst erleben. Und gerade Hochsensible sind geübt darin, auch den Schmerz darin zu spüren: sie nehmen die schmerzhaften Emotionen des Anderen wahr, oder die Reibungspunkte, wo die andere Person irgendwie nicht ganz in die bestehende Struktur reinpassen, wo es „unstimmig“ ist. Das ist eine geniale Fähigkeit! Sie schlüpfen in die Rolle des Anderen und können aus ihrer Perspektive mit-denken. Dadurch beleuchten sie das Problem von vielen Seiten aus, bevor sie eine Entscheidung treffen. Gerade in Krisensituationen ist es so wichtig, dass die involvierten Menschen sich Zeit nehmen, zuzuhören, was der andere fühlt und will – da sind Hochsensible oft ein gutes Vorbild für andere.
2) Sie lernen gut durch Beobachten und Zuhören
Diese Gabe, die Dinge leicht aus der Perspektive des Anderen sehen zu können, hat noch einen anderen Vorteil: Sie beobachten nicht nur ganz genau, sie hören nicht nur ganz genau zu, sondern sie werden auch dadurch verändert. Zum Beispiel liebe ich es, gute Bücher zu lesen, in denen meine Lebens-Muskeln herausgefordert werden: was hätte ich an ihrer Stelle gemacht? Möchte ich diese Reaktion weiterhin beibehalten oder nicht? Das ersetzt die eigenen Erfahrungen nicht, aber es ist eine prima Übungsfeld. Auch in meinen Träumen verarbeite ich oft, welche Handlungsoptionen ich habe und was die Konsequenzen davon sein könnten. Dadurch können auch meine Gefühle schon einmal intensiv verarbeiten und damit neue Situationen vorbereiten.
3) Sie „wittern“ mögliche Krisen
Weil sie alle Informationen tief verarbeiten, haben sie manchmal intuitiv eine „Vorahnung“, dass da etwas Krisenhaftes kommen könnte – zu einem Zeitpunkt, wo andere noch völlig unbeschwert weitergehen. Dadurch können sie vorausdenken, vorsichtig kommunizieren und manchmal sogar schon Probleme lösen, die andere noch gar nicht als Problem erkannt haben.
Diese Gabe sorgt oft für Stress: beide Seiten fühlen sich unverstanden, weil sie die Situation unterschiedlich einschätzen und darum unterschiedliches Verhalten als angemessen sehen. Hier ist es also wichtig, dass sowohl die Hochsensiblen als auch die Nicht-Hochsensiblen vertrauen können: „Du siehst die Situation anders als ich – aber vielleicht hast du recht.“ Ganz praktisch: Wenn du offen ausgesprochen hast, was dir Sorgen macht, und der Verantwortliche dafür reagiert darauf nicht – dann versuche nicht, das „Ruder“ (die Leitungs-Verantwortung) an dich zu reißen. Wenn es dir wirklich wichtig ist, sprich es so oft an, bis der Verantwortliche vielleicht doch mal hinschaut, ob da was dran sein könnte. Ansonsten: lass es los – du hast deinen Teil getan.
4) Sie können unter Stress immer noch gute Entscheidungen treffen
Weil Hochsensible schneller überfordert sind von dem, was sie wahrnehmen, haben sie schon ihr Leben lang geübt, mit Stress-Situationen umzugehen. Natürlich, sie sind nicht perfekt darin, und es ist oft immer noch sehr anstrengend, aber bei Krisen ist genau diese Fähigkeit gefragt. Dadurch schaffen sie es, vor Panik den Kopf nicht in den Sand stecken, sondern weiterhin aktiv das Leben zu gestalten. Andere erleben intensiven Stress vielleicht nur in ganz selten in ihrem Leben, und sind darum in dieser Extremsituation plötzlich komplett „blockiert“ – sie lenken von dem Problem ab oder machen irgend etwas, ohne darüber nachzudenken, ob das wirklich hilfreich ist.
Als ich diesen Aspekt in der Fachliteratur gelesen habe, konnte ich es erst selbst nicht glauben: Hochsensible als Stress-Experten? Aber inzwischen sind mir ein paar krasse Krisensituationen eingefallen, wo ich genau das erlebt habe: um mich herum ist geschäftige Panik ausgebrochen, aber ich konnte weiter das tun, was jetzt nötig und wichtig ist. Hinterher, nach der Krise, war es andersherum: um mich herum ist schon wieder Alltag eingekehrt, und ich war total platt, weil ich in der Krise alle Energiereserven aufgebraucht habe.
Damit Hochsensible in einer Krise gute Entscheidungen treffen können, müssen sie vor allem darauf achten, nicht selbst in Panik auszubrechen. Sie nehmen in diesen Situationen sehr viel wahr, was Angst oder Sorge auslösen könnte, vor allem wenn sie in der Vergangenheit ähnliche Erfahrungen mit negativen Ergebnissen gemacht haben. Also stellt sich die Frage: Was hilft dir, solche Gefühle immer wieder herunter zu regulieren, so wie man die Lautstärke niedriger einstellen kann? Dazu gibt es viele konkrete Strategien (z.B. Achtsamkeit, Emotionsregulation), die du ausprobieren und einüben kannst. Aber vor allem: Vergiss nicht, vor lauter Problem-Lösen auch deine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, und dir Zeiten zu gönnen, in denen du einfach das tun kannst, was dir gut tut. Ansonsten kannst du auch anderen nicht helfen.
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Vielleicht gibt es auch mehr als diese 4 Vorteile, die Hochsensible in einer Krise haben. Und gleichzeitig: Auch Nicht-Hochsensible haben natürlich wichtige Voraussetzungen, um Krisen gut zu bewältigen. Zum Beispiel ist es manchmal ist es Zeit, Dinge klipp und klar auszusprechen, ohne Subtilität und Komplexität – das können Nicht-Hochsensible meistens besser. Beide können Krisen gut bewältigen. Und beide können voneinander lernen: Nicht-Hochsensible können sich in Empathie üben und Hochsensible in klarer Ausdrucksweise. Trotzdem bleiben Herangehensweise und Charakter verschieden. Wie gut!
Jeder von uns kommt mit einem anderen Cocktail aus Stärken und Schwächen auf die Welt – das ist kein Zufall. Gott hat sich etwas dabei gedacht. Es gibt etwas, was du der Welt geben kannst, was niemand anders tun könnte. Und darum brauchen wir einander.
Mein Traum ist, dass wir Menschen so stark miteinander verbunden sind, dass es ganz natürlich ist, uns gegenseitig zu ergänzen. Wie kommen wir da hin? Der erste Schritt ist: Wertschätzung. Schätze deinen Wert hoch ein, und ebenso den Wert des Anderen. Dann können wir auch Krisen durchstehen. Und danach feiern, dass wir es geschafft haben. Gemeinsam.