Sich abgrenzen – ja, aber wie viel?

In vielen Büchern über Hochsensibilität steht: lerne, dich – in gesunder Weise – abzugrenzen. Wahrscheinlich ist das eine Lebensaufgabe für alle Menschen, aber gerade für Hochsensible ist das wichtig.

Was ist die Folge, wenn man sich zu wenig – oder zu viel abgrenzt? Im Extrem-Fall: Burnout – oder ein Sich-Abschotten.

Manche grenzen sich überhaupt nicht ab, fühlen sich verantwortlich für alle Menschen, die sie sehen – und gerade Hochsensible sehen ziemlich viele leidende Menschen (empathisch Hochsensible) oder fehlerhafte Systeme (kognitiv Hochsensible) – und landen so irgendwann im Burnout. Für diese Menschen ist meine Botschaft: du bist nicht der Retter der Welt. Du kannst es nicht sein, und du musst es gar nicht sein. Lebe als Kind Gottes – ein Kind darf einfach zu Papa rennen, wenn es sich überfordert fühlt. Sein Traum, die ganze Welt zu einem Ort zu machen, an dem keine Traurigkeit, kein Schmerz mehr existiert – ist sein Traum. Du bist ein kleines Puzzle-Teil davon. Nicht jedes ungestilltes Bedürfnis, das du siehst, ist (s)ein Auftrag an dich, eine Lösung dafür zu finden.

Dann gibt es auch das andere Extrem (auch bei Hochsensiblen). Manche grenzen sich so stark ab, dass es wie eine undurchdringliche Mauer zwischen ihnen und der Umwelt wird: „Nein, das mache ich nicht, das kann ich nicht, ich muss mich um mich selbst kümmern.“ Diesen Menschen möchte ich sagen: wenn du eine Mauer baust, wird es irgendwann ziemlich langweilig, einsam werden. Ja, du kannst dir eine Mauer bauen, aber eine solche Mauer funktioniert immer in beide Richtungen: du willst keinen reinlassen, und du willst nicht rausgehen. Ich würde behaupten: Es gibt kein Lebensglück ohne das Risiko, verletzt zu werden (vgl. Brené Brown – The power of vulnerability – mit dt. Untertitel). Weil Gott die Menschen nicht als Einzelkämpfer geschaffen hat, sondern ihnen einen tiefen Durst nach Liebe und Annahme gegeben hat.

Ich gebe zu: Beides sind Extreme. Aber beide Tendenzen entdecke ich in meiner Lebensgeschichte. Darum habe ich mich auf die Suche gemacht: Wie kann ich ein gesundes Maß an Abgrenzung finden? Und dabei habe ich gelernt, beide Seiten auch wertzuschätzen.

Denn positiv formuliert: die Menschen, die sich nicht abgrenzen, gehen extrem viele Herausforderungen an. Sie probieren neue Dinge aus, und das obwohl sie wissen, dass es anstrengend wird. Oder versuchen es noch einmal, die Situation zu verbessern, obwohl sie schon 9mal gescheitert sind. Ich bewundere diese Motivation! (Das ist nicht ironisch gemeint. Aber dieses Maß an Motivation ist gleichzeitig auch gefährlich: Burnout-Gefahr entsteht nicht primär aus dem „Zuviel“ von außen, sondern aus dem „Ich muss das aber schaffen“ von innen.)

Und die anderen Menschen, die sich sehr stark abgrenzen: sie wissen, wo ihre Grenzen sind. Sie haben ihre Grenzen akzeptiert: „Ja, das kann ich nicht so gut wie andere.“, und daraus persönliche Konsequenzen gezogen: „Das sollen lieber andere machen.“ Was für eine Weisheit! (Das kann aber nicht 100% verhindern, dass auch innerhalb ihrer Grenzen etwas schief geht. Und dann sind diese Menschen in Gefahr, auch dort ihre Grenzen enger zu stecken – und dadurch ihren Lebens-Raum weiter zu verkleinern.)

Die große Frage ist jetzt: Wie viel Abgrenzung ist gesund? Was ist der Maßstab?

Die Bibel sagt (in meine Sprache ausgedrückt): „Liebe Gott (volle Kanne!) und die Menschen um dich herum wie dich selbst.“ (Lukas 10,27). Was bedeutet das für Abgrenzung? Viele Christen betonen die ersten zwei Drittel und sagen sich: Ich soll lieben, wie Gott es getan hat, nämlich volle Kanne und egal wie viel es kostet. Ihr Ziel ist die bedingungslose Hingabe an Gott und den Anderen. Und das ist richtig, aber nur ein Aspekt von dem, wie Gott liebt. Jesus, das große Vorbild, hat sein Alles gegeben – aber er kannte auch sich und seine Grenzen. Kennst du den Jesus, der trauert, weil sein Freund gestorben ist (Matthäus 14,13; Johannes 11,35)? Kennst du den Jesus, der um Hilfe bittet, weil er Angst hat vor dem, was ihm bevorsteht (Matthäus 26,36-38)? Jesus, der heftige Worte benutzt, weil ein Freund ihm ein verlockendes Angebot macht – und ihn damit in Versuchung führt (Markus 8,33; vgl. Hebräer 4,15)? Wenn Jesus schon nicht immer souverän „ständig geben“ konnte, haben wir … keine Chance. Liebe bedeutet auch, Liebe annehmen zu können, seine eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen.

Und tatsächlich, Gott ermutigt in der Bibel nicht nur dazu, Neues auszuprobieren und Altes zu lassen, sondern auch, seine eigenen Grenzen zu akzeptieren.

Einerseits macht er immer wieder deutlich: „Du bist wertvoll, so wie du bist.“ Es gibt keine Bedingung. Du musst nichts können, nichts vorweisen, nicht von der richtigen Linie abstammen, oder sonst irgendwas: du bist ein Mensch, ein geliebter Mensch, sein geliebter Mensch. Und darum dürfen alle deine Schwächen und Herausforderungen benannt werden als das, was sie sind: Menschlich. (Manchmal, wenn ich einen Fehler gemacht habe, beruhige ich mich: „Ja, stimmt, das ist Benjamin. Das ist ok.“) Weil Gott dich bedingungslos annimmt, darfst du lernen, dich selbst bedingungslos anzunehmen. Sozusagen, dich aus seinen Augen sehen.

Andererseits sagt er aber auch immer wieder: „Ich möchte dich in eine viel größere Freiheit führen als das, was du bisher kennst.“ Gott liebt es, unsere Ketten zu sprengen: das können Gewohnheiten sein, die uns zerstören; Dinge in uns, bei denen wir keine Veränderung mehr erwarten; oder die Haltung zu denken: „Ich weiß eh schon, wer Gott ist, was er tun wird und was nicht“, usw. Er bringt Hoffnung in verfahrene Situationen und macht Unmögliches möglich. Und Gott hat diese Veränderung schon für dich vorbereitet. Es ist wie beim Auszug aus Ägypten: Gott eröffnet einen Weg, wo es keinen Ausweg gibt. Und unsere Aufgabe ist es, diesen Weg zu gehen (Epheser 2,8-10). Das geschieht oft mitten im Alltag: ein Schritt nach dem anderen in die Richtung, in die uns das Vertrauen führt. So können wir an den Herausforderungen des Alltags wachsen – mit ihm zusammen.

Genau das ist der Kern von gesunder Abgrenzung: Wenn du in dem Bewusstsein l(i)ebst, dass du bedingungslos geliebt bist – dann geht es gar nicht mehr primär um dich, auch nicht bei Abgrenzung. Wenn du wüsstest, wie unglaublich wertvoll du bist, müsstest du dich nicht mehr auf Machtkämpfe einlassen – weil du auf Gott vertraust. Abgrenzung ist dann einfach nur noch ein Mittel, damit das, was Gott will, immer mehr wachsen kann.

Der Maßstab ist also Gottes Liebe: Wenn du es aus Liebe zu Gott getan hast, dann war es richtig. Wenn du es aus dem Bewusstsein, von Gott bedingungslos geliebt zu sein, getan hast, dann war es richtig.

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Soweit die Theorie. Ich weiß, in der Praxis ist das oft schwer zu entscheiden. Und manchmal wirst du dich ein bisschen zu stark abgrenzen, oder ein bisschen zu wenig – aber solange du dich von Gott und Mitmenschen korrigieren lässt, ist das gar kein Problem.

Denn das Leben ist keine mathematische Gleichung, bei der es für eine konkrete Situation genau eine konkrete Lösung gibt. Das Leben ist eher wie ein Tanz: links, rechts, Hauptsache: gemeinsam. Und wenn man aus dem Takt gerät: tja, ist doof, aber einfach weitermachen. Dafür gibt es Vergebung und Neu-Anfang.

Zu diesem Artikel gibt es ein Arbeitsblatt mit Fragen zur Selbstreflexion: Arbeitsblätter

(Foto Asche – von David Allen, CC BY-NC-SA)