Gefühle – wie ich entdeckte, sie zu schätzen

Ich bin ein Fühler. Ich bin auch ein Denker, aber ein Denker, dem tiefe Gefühle wichtig sind. Inzwischen. Viele können intuitiv gut mit ihren Gefühlen umgehen – ich musste erst wieder lernen, wozu Gefühle da sind.

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In meiner Schulzeit hatte ich meine Gefühle bewusst unterdrückt, weil es mir zu gefährlich war, sie zu zeigen – um nicht von anderen ausgelacht zu werden, hatte ich mich so unauffällig wie möglich gemacht. Als ich dann Christ wurde, stillte Gott ein Bedürfnis in mir, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es habe. Ich dachte, das eigentliche Problem ist: „Was ist der Sinn hinter dem Leben?“ Aber er zeigte mir, dass es ein noch existentielleres Problem gibt: „Bin ich geliebt? Bin ich wertvoll?“ Und indem er mir diese Frage beantwortete, machte er es möglich, dass wieder Spontaneität und fröhliches Lachen mein Leben erfüllte. Ich bin wertvoll. Alles in mir. Er liebt mich – durch und durch.

Zu entdecken, dass auch meine Gefühle wertvoll sind, war eine jahrelange Reise, und so ganz angekommen bin ich immer noch nicht. Aber hier die Zusammenfassung dessen, was ich über den guten Umgang mit meinen Gefühlen gelernt habe:

1. Wer keine negativen Gefühle haben will, hat bald gar keine mehr. Eines Tages habe ich mich wieder geärgert, dass mir mein Zug vor der Nase weggefahren ist – und dann habe ich mich darüber geärgert, dass ich mich geärgert habe. Ich dachte: „Was bringt all dieser Ärger, der nächste Zug fährt sowieso bald, und ich kann es eh nicht ändern.“ Und das Faszinierende: es hat funktioniert. Meine Entscheidung, mich nicht mehr ärgern zu wollen, führte dazu, dass mir die verpassten Zügen gleichgültig wurden. Aber 2 Monate später stellte ich fest: mir sind auch viele andere Dinge gleichgültig geworden. Und ich hatte zwar keinen Ärger mehr, aber auch keine Freude mehr. Also machte ich diese Entscheidung wieder rückgängig, und nach und nach konnte ich das Leben wieder genießen.

2. Was weh tut, ist wichtig. Bei körperlichem Schmerz klingt das verständlich: wenn mein Bein jedes Mal schmerzt, wenn ich auftrete, werde ich es automatisch nicht so stark belasten und ggf. zum Arzt gehen. Schmerz sagt: „Da ist etwas Wichtiges nicht in Ordnung. Du musst etwas ändern.“ So ist es auch bei Gefühls-Schmerz – egal ob Trauer, Ärger, oder Wut. Gefühle sind wie Botschafter: sie drücken aus, was mir wichtig ist. Schmerz deutet auf ein Bedürfnis, das nicht gestillt wird. (Genauso wie Freude oder Glück bestätigen, dass ein Bedürfnis erfüllt wurde.) Also stille ich einfach das Bedürfnis? Leider ist das in der Praxis ziemlich komplex: Ich will das tun, was das Gefühl A sagt, aber auch das, was B und C sagen – und alles gleichzeitig geht nicht. Also muss ich mich entscheiden. Und angenommen ich entscheide mich für C, dann will ich A und B dennoch geduldig zuhören und ihre Bedenken anhören. Und tatsächlich: die Gefühle A und B sind wie Männchen, die sich weniger aufregen, wenn sie sich wertgeschätzt und verstanden fühlen. Darum ist mein Leitsatz geworden: „Ich muss nicht tun, was die Wut mir sagt – aber ich muss ihr zuhören. Sie hat mir etwas Wichtiges zu sagen.“

3. Seinen Gefühlen zuhören ist wie Muskel-Training: es braucht Anspannung und Entspannung. Immer wieder komme ich in Situationen, wo ich mich von der Intensität meiner Gefühle überfordert fühle – Angst, Trauer, Verbundenheit, Aufregung, … Und ich darf lernen: ich bin nicht meinen Gefühlen ausgeliefert. Ich kann sie wieder in den Normalbereich begleiten. Aber wie? Manchmal ist es gut, einfach mal etwas komplett anderes zu machen: in die Natur gehen und auf jedes einzelne Detail achten. Ein gutes, nicht zu emotionales Buch lesen. Auf den Boden legen und 5 Minuten gar nichts machen. Mit Freunden oberflächliche Witze reißen. Weißt du, was für dich entspannend wirkt? Nicht jede Methode funktioniert jedes Mal, achte auf dein Bauchgefühl: was brauchst du gerade? Manchmal ist es aber auch gut, intensiv hinzuschauen. Tagebuch schreiben, meine Gefühle in ein Bild ausdrücken, Musik machen, das Gefühl von vielen verschieden Seiten angucken: analytisch, kreativ, von der Motivation her, von dem Zweck her, was ist deine Botschaft, … Auch Träume helfen mir oft, zu verstehen, welche Gefühle gerade in mir toben und warum. Dieser Prozess, meine Gefühle zu verarbeiten, ist echt anstrengend – wie ein Langstreckenlauf. Aber gerade darum ist es wichtig, sich immer wieder Zeiten der Erholung und Ablenkung zu gönnen: um wieder Kraft zu haben, wieder ein Stück mit seinen Gefühlen mitzurennen. Muskeln können sich nur bilden, wenn Anspannung und Entspannung sich abwechseln. Genauso brauchen wir beides, um unsere Gefühle näher kennen zu lernen. Gefühle sind ein wichtiger Teil von mir … aber eben auch nur ein Teil von mir.

4. Wenn ich meine Gefühle kenne, kann ich mutige, irgendwie reife Entscheidungen treffen. Reife bedeutet: ich weiß, wer ich bin, was ich kann und nicht kann, was ich brauche, dass ich wertvoll bin, dass ich Fehler machen darf, und dass ich meine Grenzen konsequent in meiner Lebensführung mit-berücksichtige. Eine solche Reife kommt nicht von heute auf morgen. Aber sie wächst Schritt für Schritt, Erfahrung für Erfahrung. Was ich emotional erlebe, lerne ich noch tiefer. So oft hat Gott mich schon aus tiefen emotionalen Löchern gezogen. Er wird es auch ein X. Mal tun. Es ist keine Katastrophe, wenn ich wütend, ärgerlich, traurig werde. Es geht vorbei. Und am Ende werde ich zurückschauen und sagen können: es hat sich gelohnt. So kann ich mutig in neue Situationen gehen, obwohl ich gleichzeitig manchmal Angst vor ihnen habe. Ich lasse mich nicht von ihnen einschüchtern. Ich vertraue dem Versprechen, das Gott mir gemacht hat: „Ich lasse dich niemals allein. Du bist mir wichtig.“

5. Gefühle sind ein Teil von dem guten Design, wie Gott mich gemacht hat. Weil er fühlt, fühlen auch wir. Darum sind Gefühle wertvoll, alle Gefühle. Sie helfen uns in der Aufgabe, durch die komplexe Welt unseres Lebens zu navigieren. Wenn sie mit anderen Gefühlen, mit dem Verstand, mit dem Vertrauen, mit Werten usw. wie in einem Team zusammenarbeiten, sind sie unschlagbar. Aber auch: wenn ausschließlich unsere Gefühle unser Verhalten bestimmen, werden sie zu Tyrannen. Denken und Fühlen gehört zusammen.

So schätze ich sie heute als meine wertvollen Verbündeten. Wäre ich auf dem Weg des Nur-Denkens geblieben, wäre meine Lebenswelt heute viel grauer und monotoner. (Ich wäre ein fleißiger Perfektionist, der alle Energie darauf verwendet, die Probleme der Welt zu lösen. Aber es gibt auch Schönheit! Freundschaft! Kreativität! Gefühle machen lebendig.) Aber als Denker, der das Fühlen neu entdeckt hat, kann ich sagen: Auf geht’s! Das nächste Abenteuer wartet schon auf mich.

Zur Vertiefung empfehle ich das Arbeitsblatt 1: Ich und meine Sensibilität

Foto von @elrentaplats – CC BY-NC-SA

Ein Gedanke zu „Gefühle – wie ich entdeckte, sie zu schätzen

  1. Was hat dieser Artikel mit Hochsensibilität zu tun? Nichts – und doch sehr viel. Ich vermute, dass es auch viele Nicht-Hochsensible gibt, die neu lernen müssen, ihre Gefühle wahrzunehmen und anzunehmen. Aber vielen Hochsensiblen wurde die Richtigkeit ihrer Gefühls-Wahrnehmung abgesprochen, oder sie wurden als „zu weich/gefühlsbetont“ kritisiert – und so brauchen gerade sie wieder neu den Mut, sich auf ihre Gefühle einzulassen. Es lohnt sich!

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