Der junge Mann, von dem ich euch erzählen möchte, ist gebildet. Er ist Historiker, aber seine eigentliche Leidenschaft: Bücher. Er hat sie ALLE gelesen. Was die Ägypter herausgefunden haben! was die Griechen erzählen! So große Geschichten!
Nur ein Buch liegt verstaubt in seinem Regal. Als Kind hat er es auswendig gelernt, und jetzt hängt es ihm zum Hals raus: die Bibel. Wenn man ihn fragen würde, warum, würde er mit den Schultern zucken und sagen: „Funktioniert doch eh nicht.“ Bis eines Tages …
Wir schreiben das Jahr 740 vor Christus. In Jerusalem regierte die letzten 27 Jahre der König Usija – ja, REGIERTE, vor wenigen Monaten ist er gestorben. Und das ist das Problem. Usija, wie soll ich sagen, er war nicht der beste König, aber er schaffte Ordnung. Jetzt wurde sein Sohn Jotam gekrönt, und Jotam ist noch jung.
Jesaja arbeitet am Hof des Königs. Aber was kann er schon tun? Er ist nur ein kleines Rädchen. Frustriert sitzt Jesaja an seinem Schreibtisch und erinnert sich:
Er ist auf den Weg zur Arbeit. Am Straßenrand erkennt er Mirjam, ein Waisenkind, in Tränen aufgelöst. Normalerweise hat sie immer einen Korb Früchte dabei, die sie verkauft, um damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie erzählt, dass ihr ganzer Korb gestohlen wurde, mitten auf dem Marktplatz. Viele haben es gesehen, aber keiner wollte ihr helfen.
Jesaja geht mit ihr zur Polizeistation, aber diese winkt nur ab. Jesaja spricht mit den Leuten am Marktplatz, aber keiner ist bereit, als Zeuge aufzutreten. Den ganzen Tag müht er sich ab, aber Mirjam wird behandelt wie Luft. Schrecklich!
Jesaja ist überwältigt von diesen Erinnerungen. Solche Situationen bekommt er ständig mit!
Er scannt sein Bücherregal und sieht die Bibel. „Also gut, es kann ja nicht schaden.“ Er nimmt das Buch, schlägt es auf und liest:
„Denn der Herr, euer Gott, ist Herr über alle Götter und Gewalten, er ist groß und mächtig und verbreitet Furcht und Schrecken um sich. Er ist nicht parteiisch und lässt sich nicht bestechen. Er verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht …“ (5. Mose 10,17f)
Das bringt sein Fass zum überlaufen: „Gott! Das ist so ungerecht! Ich habe alles getan, was du gesagt hast. Ich versuche, den Waisen zu helfen! Du hast deine Hilfe versprochen. Und, was bringt es?!
Ungerecht! Gott, siehst du mich denn nicht? Jetzt mach doch mal was! Oder kannst du dich etwa nicht durchsetzen?!“
Was meint ihr, wie Gott auf so ein Gebet reagieren wird? Wird er jetzt beleidigt antworten? Zornig? Nein. Unglaublich: Gott geht ihm entgegen…
Während Jesaja also da in seinem Büro sitzt, sieht er plötzlich den Tempel vor sich. Aber nicht von außen. Von innen! Er ist am allerheiligsten Ort, da, wo nur Priester reindürfen! „Was habe ich hier zu suchen?!“
Er schaut sich um, und (aah!), er sieht … Gott. Nicht sein Gesicht. Sondern einen riesigen Thron. Seine Majestät
strahlt ihn an, Gott füllt alles aus, Engel fliegen um ihn herum, sie sehen aus wie Feuer, sie rufen wieder und immer wieder: „Heilig, heilig, heilig. Die ganze Erde ist voll von Gottes Herrlichkeit!“
Jesaja fühlt sich wie Schokolade, die in der Sonne zerfließt. Er ist schockiert.
Es zerdrückt ihn geradezu, er fällt auf den Boden, er hat keine Kraft mehr: Überall ist Gott.
Er kapiert: Gott ist der eigentliche König, nicht Jotam.
Er stammelt: „Gott! Ich vergehe … es tut mir leid. Meine Worte gerade eben waren falsch! Muss ich jetzt sterben?!“
Aber da geht Gott noch einen Schritt auf ihn zu. Er schickt einen Engel zu Jesaja, und dieser Engel nimmt vorsichtig
mit einer Zange eine glühende Kohle von dem Altar des Tempels.
Das heilige Feuer kommt immer näher, und schließlich berührt dieses heiße Stück Kohle die Lippen von Jesaja.
(Schmerz) Aber seltsam, für Jesaja fühlte es sich auch gut an. Er merkt: das Feuer verbrennt seine Schuld. So wie Silber in Säure gelegt wird, um es von den schwarzen Flecken zu befreien, so wird er von seinen schwarzen Worte befreit. Gott sagt zu ihm: „Deine Sünden sind vergeben.“ Das ist Freiheit.
Langsam kommt wieder Kraft in seinen Körper, und langsam steht er auf. Er sieht wieder zum Thron.
Was passiert da? Gott hat ein Manuskript auf seinen Schoß liegen. Und es sieht so aus, als würde er planen, überlegen: „Wer ist der Richtige für diese Botschaft? Wen soll ich schicken?“
Jesaja schluckt. Dann ruft er: „Hier bin ich. Ich bin bereit. Sende mich, wohin du willst. Ich will sagen, was du mir sagst.“
Gott schlägt das Heft zu und hält es Jesaja hin. Er sagt: „Das sind die Worte, die du meinem Volk sagen sollst. Vielleicht werden sie dir zuhören, aber verstehen werden sie es nicht. Weil sie nicht auf mich hören wollen.“ Jesaja antwortet nur: „Ich will auf dich hören.“
Und plötzlich sitzt Jesaja wieder in seinem Büro. Er nimmt ein neues Blatt Papier und schreibt alles auf, was er gerade gesehen und gehört hat, damit andere es lesen können, Tausenden von Jahren später.
Er hält inne und sagt sich: (Kopf schütteln) „Ich bin ein Versager. Und trotzdem will Gott mich benutzen. Mein Leben ist Teil einer großen Geschichte.“
„Wer ist heilig?“ von Benjamin Pick ist lizenziert Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen.
(Vielen Dank, Jojo Zwingelberg, für dein Coaching!)