Zerbrochen

Wir saßen im Religionsunterricht. Der Lehrer, der gerade reinkam, hatte einen Beamer mitgebracht, eine DVD und Arbeitsmaterialien, die ich schon kannte: in meiner Gemeinde benutzten sie sie jedes Jahr in einem Glaubens-Grundkurs, um zu erklären, warum Jesus sterben musste.

In unserem Klassenzimmer ging es drunter und drüber: jemand hatte die hellgrüne Plastikbrille von David aus seinem Ranzen geklaut, und nun wurde sie hin- und hergeworfen. David spielte das Spiel mit, und warf sie sogar ein, zweimal an andere Kinder, aber sehr glücklich war er nicht darüber. Dann passierte es: die Brille zerbrach. Stille. David nahm sich die zwei Teile, nahm die Gläser heraus, und sagte: „Ach mann, warum muss sowas sein.“

Ich stubste meine Nachbarin an und sagte leise: über die Brille werden wir heute noch reden, ich würde die Arbeitsblätter schon kennen. Sie weiß, dass ich Christ bin, aber trotzdem sah sie mich verwundert an. Also erklärte ich ihr, „Ich habe diese Arbeitsblätter schon 2 Mal durchgearbeitet, in der Gemeinde, und der Lehrer machte immer ein Beispiel … ‚Wisst ihr, wie Gott verändern will?‘ “ Ich wartete ab, bis sie sich selbst Gedanken machen konnte. „Wir würden jetzt das Kaputte einfach umtauschen. Gott will uns nicht umtauschen, sondern heilen.“ Tränen kamen in ihre Augen. Sie sagte, „Aber zum Christsein gehört doch auch dazu, in die Kirche zu gehen … und sich verändern zu lassen …“, und bevor ich darauf antworten konnte, ging der Unterricht los.

Nachdem der Lehrer die Arbeitsblätter ausgeteilt hatte, startete er den Film, den er auf DVD mitgebracht hatte: ein Zeichentrickfilm, der in kurzen Sätzen und über-stilisierten Bildern das Sterben und die Auferstehung Jesu erzählte. Mir gefiel er nicht. Aber als ich das Bild sah, wie Jesus zerschlagen am Kreuz hing, durchfuhr es mich: ich schrie auf, und krümmte mich wimmernd. Nur wenige Minuten später war der Film zu Ende, und eine fröhliche Melodie füllte den Raum: die Titelmusik der DVD, ich fühlte mich von ihr genervt. Gerade als der Lehrer anhieb, um zu sprechen, beschloss ich, die Musik leiser zu machen; leider erwischte ich den Lauter-Knopf, so dass der Lehrer den Mund wieder schloss. Ich drückte den Stopp-Knopf und schließlich war es ruhig. Eine Hand hob sich. Langsam meldete ich mich auch.

Normalerweise gilt die Regel: wer sich zuerst meldet, wird zuerst drangenommen. Aber er war wohl neugierig, und ich denke, der Rest der Klasse auch. So wendete er sich an Thomas, der sich zuerst gemeldet hatte, und fragte: „Kann das kurz warten?“ Dieser nickte und drehte sich zu mir. Ich fing an:

„Was würdet ihr denn machen, wenn jemand für euch sterben würde?“ Alle schwiegen. „Ich versteh das selbst nicht, und ich werde es nie verstehen. David, gib mir bitte deine Brille.“ — „Ich hab sie schon in den Müll geworfen. Die Gläser waren auch total verkratzt.“ — Ich nickte. „Ich möchte eine Geschichte erzählen. Manchmal fühlen wir uns kaputt wie diese Brille, manche total kaputt, in vielen Einzelteilen, und ich kenne diese Gefühl. Aber alle von uns haben ihre Macken und Kratzer. Nun, wenn Jesus diese Brille in die Hand nehmen würde, was würde er tun?“ Ich wog ab und entschied mich, auch hier eine Denkpause zu lassen. Keiner reagierte auf die (zugegebenermaßen) rhetorische Frage. „Jesus wirft uns nicht weg. Er möchte uns wieder ganz machen, das ist seine Leidenschaft: er heilte die Kranken, und so heilt er auch das Kaputte in uns. Du sagtest“, und ich wandte mich zu meiner Nachbarin, „dass Christen auch in die Kirche gehen müssen und sich verändern lassen müssen. Das ist Quatsch. Das wäre so, als würde man sagen: Um Bildung zu bekommen, musst du in die Schule gehen. Ist schon jemand davon schneller geworden, weil er sich in ein Stadium gesetzt hat? Selbst wenn er noch so intensiv zuschaut, kann er so nur theoretisch lernen. Und hier gehe ich wieder zurück zum Brillen-Bild. Denn: Laufen kann man trainieren. Unser Leben zu reparieren ist so aussichtslos, wie die Brille von David kleben zu wollen. Es wird ein paar Tage halten, aber dann wieder an der gleichen Stelle auseinanderbrechen. Aber Jesus nimmt sie in die Hand, und — wie, werde ich nie verstehen — er macht sie ganz. Und der zweite Teil von dem, was ich nie verstehen werde: irgendwie, damit er unsere Brille ganz machen konnte, musste er seine eigene kaputtmachen. Ich weiß nicht, warum Jesus sterben musste, aber es wird wohl keine andere Möglichkeit gegeben haben. Und das ist das, was mich gerade so bewegt: Gott hat seinen eigenen Sohn geschlagen und zerbrochen, damit er mich ganz machen kann. Das ist die gute Nachricht vom Christ-Sein. Und vielleicht hast du“, ich deutete wieder auf meine Nachbarin, „mit dem zweiten Teil ein bisschen Recht. Wir müssen uns verändern lassen. Aber auch das ist nicht auf unserem Mist gewachsen. Wir müssen ihm unsere Brille nur hinhalten, er nimmt sie in die Hand und … alle Scherben, alle Puzzle-Teile unseres Leben fügt er zusammen. Welche Geduld, welche Liebe hat er für uns.“

Ich hasse die Augenblicke, in denen ich das Wort abgebe: ich will nicht wissen, welche Reaktion ich hervorrufe, ich verstecke mich tief in mir selbst, und gleichzeitig schaue ich durch ein kleines Fenster meines Herzens, ob meine Worte auch andere Herzen angerührt haben. Es wird noch ein langer Weg sein, bis meine Klassenkameraden auch ihr Brillen-Leben an Gott übergeben werden; aber vielleicht sind wir heute ein Schritt weitergekommen.

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