Der Stillstand

Alle Achtung, eine Durchsage für Jedermann: Am folgenden Tage, den 17. April 1973, wird die Zeit für immer stillstehen: die Wissenschaft wird nicht weiterkommen, die Bäume aufhören zu wachsen; die Sonne wird an ihrem Platz fixiert sein und der Fernseher ein Standbild zeigen;

Die Löwen werden nicht mehr schnell rennen und die Politiker nicht mehr laut reden können; Freunde werden Freunde bleiben und Feinde Feinde; Sprache und Kultur werden beschreibbar, weil sie sich nicht mehr ständig ändern; der Wind wird schweigen und Autos werden streiken.

Am 17. April wird die Hoffnung sterben, der Unterschied zwischen Idealist und Realist ein vernachlässigbarer, und Treue wertlos, weil natürlich werden. Werbung und Marketing verschwinden, weil sie keine Gewinnsteigerung mehr herausschlagen können; das Rohstoffproblem wird gelöst und die Frage, ob es Leben im All gibt, ungelöst bleiben. An diesem Tage werden alle im Jetzt leben, ihre Zukunfts- und Vergangenheitsängste werden vergessen sein.

Achtung, Achtung, eine Durchsage an Alle: die vorherige Durchsage wird nie eintreffen. Oder?

Wir sitzen auf dem Sekundenzeiger, der die Vergangenheit von der Zukunft trennt, und der Zeiger bewegt sich so schnell, daß wir seine Bewegung kaum erkennen – so wie wir die Bewegung der Erde nicht spüren, obwohl sie stattfindet …

(Heinrich Böll, „Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit“, 1953, in: Heinrich Böll – Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze, hrsg. von Kiepenheuer & Witsch, 1961)

War schön. Aber so schnell brauch ich das trotzdem nicht wieder.

(Bundeskanzlerin Angela Merkel nach ihrer beschwerlichen Heimreise aufgrund des vulkanischen Aktivismus von Eyjafjallajökull)

The Germans, Part XI : The “Sachlichkeit”

Kennt ihr „How to be an alien?“ Wir hatten die Aufgabe, einen ähnlich satiristischen Text über den deutsch-französischen Kontext zu schreiben.

In this episode we will learn:

  • how Germans behave in a traffic jam,
  • how they celebrate not being at work (“Feierabend”, literally: celebration evening) and

  • even discover a secret wish of a German woman.

Germans are known for being “sachlich”. What does this mean? The idea is simple: they are able to stay neutral, behaving in a rational way, in spite of circumstances that may provoke or even threaten. Weiterlesen

Greifen nach den Sternen

Siehst du die Sterne?
– Ja.
Einer davon könnte mir gehören.
– Was meinst du?

Ich könnte einen Rakete bauen, zum Himmel fliegen, bis zu meinem Stern; dann würde ich meine Schatulle aufmachen, den Stern hineinlegen, die Schatulle wieder schließen; und wenn ich wieder auf der Erde bin, verstecke ich die Schatulle in meinem Keller.
– Bist du sicher, dass das möglich ist?
Heutzutage ist alles möglich. Die Technik, mein Lieber …

– Und wenn eine solche Rakete, mit der du zu einem Stern fliegen kannst, noch nicht existiert: würdest du sie erfinden?
Benjamin denkt nach. Nein., sagt er schließlich.
– Warum nicht? Weiterlesen

Gott ist wie … eine Schuldenberatungsstelle

Dieu est comme … un bureau de surendettement

Als ich noch in Stuttgart wohnte, gab es da eine Hausecke, die mich immer wieder faszinierte: denn in dem untersten Geschoss des Gemäuers war ein Schaufenster, auf dem stand geschrieben: SCHULDENBERATUNGSSTELLE, in weißen, großen Buchstaben. Nicht dass ich es nötig hätte, ich meine, ich habe zwar ein paar Kreditkarten, mein Konto ist manchmal überzogen, aber daran ist ja nichts Ungewöhnliches. Und dennoch strahlte dieses Geschäft seinen Reiz aus; sei es, weil es seriös wirkt; sei es, weil ich die Innen-Einrichtung als warm empfinde.

Eines Tages beobachtete ich, dass ein Mann vor dem Schaufenster stehen blieb, zögert, und schließlich eintrat. Ich dachte mir: „So, der ist also verschuldet? Obwohl er einen Anzug an hat ?“ Aber gut, jedem das Seine. Er ging also hinein, und der Mann hinter dem Schreibtisch begrüßte ihn und bot ihm – ohne Witz – einen Kaffee an. Jener lehnte höflich ab, er sei kein Kaffeetrinker, ob es denn Tee gäbe? Natürlich. Und sie redeten über dieses und jenes, ich lernte, dass der – sagt man: Schuldenberater? – dass seine Frau krank ist, Grippe, nichts schlimmes. Plötzlich schaute der – der Beratene? der Kunde? – wie auch immer, er sah auf seine Uhr und sprang auf, er habe noch einen wichtigen Termin, und stürmte aus dem Laden. Ich schüttelte den Kopf: „So, dafür geht man also in die Schuldnerberatungsstelle ?!“ Weiterlesen

Als du heute morgen aufwachtest …

Als du heute morgen aufwachtest, dauerte es ein paar Sekunden, bis ich dir wieder einfiel. Ein Lächeln bildete sich auf deinem Gesicht, und energisch standest du auf.
Lohnt es sich, für mich zu leben?

Noch bevor du dir den Kaffee machtest, durchblätterstest du deinen Terminkalender, wann wir uns das nächste Mal sehen werden. Am liebsten wäre dir, jetzt gleich, sofort … obwohl unrasiert, ungeduscht, und vor allem: schläfrig.
Ist dir ein Leben mit mir so viel wert?

Während das Wasser durchlief, nahmst du dein Handy in die Hand, um mich anzurufen. Aber du besinntest dich, nicht immer bin ich schon um 7.30 Uhr wach. Also schriebst du mir eine SMS – einfach so, natürlich, weil dir gerade langweilig war.
Bist du verliebt?

Als du, dein Brötchen in der Hand, die Morgenpost überflogst, ließ dich alles kalt, ja, du dachtest nicht einmal darüber nach, was du gelesen hattest. Denn deine Gedanken waren bei mir.
Bin ich dir so viel wert? Willst du wirklich den kritischen Teil deines Lebens mir schenken? Unwiderruflich?

Dann bin ich dein Gott.

Der Wettkampf mit mir selbst

Ich fühle mich wie auf einer Wiese; jemand hat mich dorthingeführt, und bevor ich die Augen aufmache, erklärt er mir nochmal die Regeln: „Ganz einfach. Es gibt nur eine Regel: du musst so schnell wie möglich zum Ziel, und selbst wenn du nicht so weit kommst, je weiter du kommst, desto besser.“ Ein Rennen also. „Ein Marathon?“, frage ich. „Naja, so ähnlich, du hast halt nur 90 Minuten Zeit, dann wird abgebrochen. Hast du geübt?“

„Natürlich habe ich geübt!“ antwortete ich stolz, dabei hatte ich nur vor einer Woche angefangen, joggen zu gehen.

„Noch eine Regel: sobald du die Augen aufmachst, kannst du mich nichts mehr fragen. Hast du also noch eine Frage?“ Ich überlege scharf, aber eigentlich ist alles vorbereitet: ich habe meine Turnschuhe an, eine Käppi, falls die Sonne scheint, und einen Regenumhang, falls es anfängt zu schütten … „Ach ja … wie ist das Wetter gerade, ich meine, ich seh ja nix …“ – „Das Wetter ist perfekt.“ – „Gut, danke. Dann kann es losgehen.“

„Oke … Auf die Plätze, fertig … los!“ Ich nehme die Augenbinde ab, und als meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnen, komme ich nicht mehr aus dem Staunen heraus. Ich dachte, es wäre eine Bahn vorbereitet worden, Absperrungen und so … ich meine, immerhin ist das Fernsehen da! … nichts. Um mich nur grüne Wiese, dort ein Wald, hier ein See, und am Himmel Wolken, die Regen versprechen.

„Wohin soll ich denn laufen?“ Er antwortete nicht, sondern ging zurück zu seinem Auto. „Bis später!“, rief er lächelnd.

(Hier geht es nicht um meine Identitätsfindung, sondern nur um eine Klausur … )

Die Prinzessin und das Krokodil

Die edle Prinzessin Adelheid schritt dem Strand entlang und dachte an ihren Geliebten, den Prinz. Doch was ist da: zwei Krokodilsaugen luren aus dem Schilf. Sie entdeckten ihr neues Opfer und Mr. Crocodile verliebte sich unsterblich ins sie.

Als Mamsell um die Ecke kam, dachte er, jetzt sei der Moment gekomen, sich zu zeigen – natürlich von seiner besten Seite, um der Prinzession schöne Augen zu machen. Also legte er seinen langen Schwanz dezent vor sie auf den Weg.

Das Unglück ließ nicht lange auf sich warten: Mademoiselle la Princesse stolperte über selbigem, und als sie erblickte, was sie zum Stolpern brachte, wurde sie sandbleich.

„Erschrecken Sie nicht“, sagte das Krokodil, und sein Mund sabberte. „Ich bin ihr neuer Beschützer und würde sie gerne heiraten.“ Die Prinzessin fand keine Worte. „Ich gebe ja zu, meine Apparence ist ein wenig … sagen wir … gewöhnungsbedürftig, aber tief innen drin bin ich ein guter Kerl.“ Die Prinzessin antwortete stotternd: „Sie wollen also sagen, dass …“ – „Ja, genau.“ Plötzlich entdeckte Croco in den Augen der Prinzessin eine Entschlossenheit, die ihm Angst machte, und tatsächlich: beherzt und geschwind hob sie ihre Handtasche auf, holte damit aus und pfefferte sie dem Krokodil an die Stirn, dem Krokodil blieb vor Schreck das Herz stehen und starb.

Kaufen Sie Handtaschen von Matura, die einzigen aus echter Krokodilhaut.

Die Geduld des Bräutigams

Ich kann mich noch erinnern, an einem Tag, ich war in einer Kirche, viele Gäste um mich – war es meine Hochzeit? war es meine Verlobung? – Ich saß da, im Gang, und wartete, ich wartete auf meine Braut. Ständig kommt sie zu mir, schaut mich an, huscht wieder in die Küche, redet mit den Leuten im Gang, kommt wieder zu mir, zwei Sekunden später verschwindet sie aufs Klo … Wie schön ihr Kleid war!

Wieder einmal stellte sie sich vor mich, und ich zog sie auf meinen Schoß. Doch schon bald stand sie wieder auf, wie ein Kreisel, der nicht zur Ruhe kommen will.

Es war wieder ein wenig später, und sie trat vor mich und sagte: „Ich liebe dich nicht mehr.“ Und es verwirrte mich nicht, sondern ich antwortete: „Selbst wenn es so wäre, müssten wir lernen, uns zu lieben.“ Doch sie reagierte verzweifelt: „Ich glaube nicht, dass es ein weiter gibt!“

So stand ich auf, ging in den Raum nebenan, ich wollte ein Teelicht wieder anzünden und leerte es dabei aus … Ich ging zu ihr hin und sagte: „Ich gebe dir eine beliebig lange Zeit, es dir zu überlegen. Ruf mich dann an wenn du soweit bist.“ (Und wie gerne hätte ich hinzugefügt: „Aber bitte, bitte, bitte! entscheide dich für mich …“) Und ich ging zur U-Bahn, und noch immer spürte ich diese Sehnsucht nach ihr …

Als ich am Bahnsteig stand und wartete, legten sich plötzlich zwei Hände auf meine Augen, und nicht nur an der Zierlichkeit ihrer Hände, sondern auch in meinem Geist spürte ich: das ist sie!

Seitdem weiß ich, dass es sich lohnt, zu warten.

Du bist schön

„Du bist schön.“ sage ich und setze mich hinter sie. „Du bist schön und keiner erkennt das an. Das ist ungerecht.“ Sie hält inne und betrachtet sich im Spiegel. „Wie meinst du das?“

„Ich meine“, versuche ich mich zu verteidigen, denn ich ahne, dass ich gerade etwas Dummes gesagt habe, „ich meine, es gibt so viele Models, die von allen für ihre Schönheit bewundert werden, und du …“ Maria fährt fort, sich zu kämmen. „Meine Haare glänzen nur für dich.“ sagt sie bedächtig. Mein Blick wird starr. „Wie habe ich das verdie…“ Sie unterbricht mich. „Natürlich hast du es nicht verdient, was verdient man sich heutzutage noch. Aber …“ – „Ja?“

Sie holt Luft und sagt leise: „Aber ich liebe dich.“ Die Sonne kommt hinter den Wolken hervor und strahlt plötzlich durch das Fenster. Tatsächlich, ihr Haar glänzt. „Ich liebe dich auch.“ antworte ich.

Sie dreht sich um und schaut mir in die Augen. „Jedenfalls, Matthias, bist du auch schön.“ und fügt schnell hinzu, als sie die Runzeln in meiner Stirn sieht, „In meinen Augen.“

.

„Es gibt Liebe, die liebt, weil sie etwas Wertvolles sieht – und es gibt Liebe, die wertvoll macht, was sie liebt.“

(John Ortberg, „Die Liebe nach der du dich sehnst.“)

Gott ist … Gerechtigkeit

Zwei Diebe unterhalten sich.

Meinst du, Gerechtigkeit ist allgegenwärtig?

– Natürlich.

Warum sieht man sie dann so selten? Das letzte Mal als sie auftauchte, waren sie viele, hatten grüne Mützen auf und kamen mit Handschellen auf mich zu …

– Das ist nicht Gerechtigkeit, das ist nur ihre Anwaltschaft.

Na siehste. Gerechtigkeit hat eine hohe Nase und käseweise Haut … oder sie ist blind.

– Das würde ich so nicht sagen.

Wie dann?

– Das Gericht ist noch nicht einberufen worden. Wie soll Gerechtigkeit für ihre Durchführung sorgen, wenn ihre Zeit noch nicht gekommen ist? Wir leben in einer Zeit der freiwilligen Gerechtigkeit. Im Gericht werden die letzten Worte gesprochen. … Welche Rolle wirst du im Gerichtssaal haben?

Ähm …. Zeuge.

– Du hast Recht, wir sehen viel Ungerechtigkeit, aber meistens, weil wir es sind, die sie tun. Natürlich siehst du viele Diebstähle …

Aber du doch auch!

– War es jemals gerecht, Vergleiche anzustellen? Ist es gerecht, ein Flugzeug zu beneiden, weil es so viel schneller ist als meine Ente? Außerdem, wer sagt dir, dass du mit den richtigen Maßstäben vergleichst? Die Ägypter hatten Gerechtigkeit anders gemalt, als wir es getan hätten. Wer hat mehr von Gerechtigkeit gesehen?

Ach du, die Zeitungen, heute, wir sind ziemlich gut informiert.

– Wir kennen jede Ungerechtigkeit.

Genau.

– Und was ist Gerechtigkeit? Wenn all das nicht passieren würde?

Öhm, naja … zumindest wäre das Leben dann viel ruhiger.

– Du könntest auch aufhören, die BILD zu lesen, dann wird das Leben schon ruhiger.

Was ist denn nun Gerechtigkeit?

– Eine Person.

Die Straßenbahn fährt vorbei, die Autos bremsen, eine Frau schreit auf: „Mein Schlüssel!“

Warum sehe ich diese Person nicht? Sag bloß, du glaubst an … Moment, wir sind schon so lange zusammen, wir drehen die schönsten Dinger, und du sagst, dass … ?

– Ein andermal, Fred.

Und Ed stand auf, bezahlte seinen längst ausgetrunkenen Kaffee und ging nach Hause.