Konstruierte Wahrheit?

Erst dreht sich die Sonne um die Erde, dann war es andersherum, und jetzt dreht sich das ganze Universum um das Individuum. (So wie der Mathematiker eine Kuh einzäuhnt: er spannt den Stacheldraht um sich selbst, und definiert, er sei außen.)

Dabei begann alles mit einer simplen Frage: ist die Realität tatsächlich so objektiv-eindeutig, ist zuschauen an sich nicht schon interpretieren? Geht es also mehr um Bedeutungszuweisung als um Wahrheit? Leider ist diese These (Konstruktivismus) genauso wenig beweisbar wir ihr Gegenteil (Positivismus). Auch ihre Auswirkung ist nur selbst-bestätigend: Je komplexer das gesellschaftliche System, desto komplexer halten wir es, desto komplexer ver-halten wir uns. Darum Luhmann’s Theorie, dass der hauptsächliche Sinn von Organisationen ist, irgendeinen Konsens zu finden, um die Komplexität und damit die Unsicherheit unserer Umwelt zu verringern. Träumen wir nicht alle von einer Welt, in der genau das passiert, was wir uns vorstellen?

Es ist Nostalgie, Utopie, und vielleicht gar keine schöne. Denn: man müsste selbst perfekt und gut sein, um die Welt perfekt und gut zu regieren. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: entweder ich gebe den Anspruch auf, die Welt Stück für Stück zu verbessern, in verschiedenen Formen: Agnostik („Ich weiß, dass ich nichts weiß“), Hedonismus („Hauptsache, es geht mir gut.“) oder Determinismus („Was geschehen soll, wird geschehen“) – oder ich definiere mein Leben um, als Mond, der nicht selbst gut ist, sondern Güte widerspiegelt. „Ich weiß es nicht, aber ich muss es auch nicht wissen.“ Und damit stehe ich dem Konstruktivismus sogar näher als dem Positivismus, der Wissenserwerb als Fleißaufgabe sieht („Je genauer und aufwändiger, desto wahrscheinlicher, dass eine Gesetzmäßigkeit erkannt wird.“ Darum auch der Fortschrittsoptimismus). Ich vertraue meinem Vater & Freund, er hat mich bis hierhin geführt, und er wird es weiter tun.
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You love me again today, Lord?
Is there no depth to the well that is you?
There is no depth to the well of need that is me.

– Sheila Walsh, „Outrageos Love“

3 Gedanken zu „Konstruierte Wahrheit?

  1. Es gibt m.E. Offensichtliches, dem nicht widersprochen kann. Wenn es beispielsweise regnet und Menschen nass werden. Nicht mehr ganz so offensichtlich ist es, dass Erkältungen durch Regen verursacht werden. Immer da, wo Offensichtliches minimiert wird bzw. verschwindet, neigen Menschen dazu – weil es ihr Leben erforderlich macht, meine ich – Erklärungen zu finden, die andere mal mehr oder mal weniger akzeptieren können. Es ist m.E. eine Skala denkbar, auf der Erklärungen rangieren können, je nach dem ob sie einen, mehrere oder viele Schritte absichern sollen. Es gibt auch Menschen, die wollen bei jedem Schritt auf Nummer sicher gehen und erfinden sehr weitreichende Erklärungen.
    Jede Erklärung ignoriert entsprechend ihrer (Schritt-) Reichweite, die offensichtlichen Veränderungen der Kontexte innerhalb derer Menschen ihre Schritte tun und deren unterschiedliche Schrittlänge. Je ignoranter Erklärungen sind, desto mehr Probleme scheinen sie zu produzieren, die nicht vom Offensichtlichen, sondern vom Erklären produziert werden. Pragmatisch scheint es mir deshalb keinen Gewinn zu versprechen, dass Menschen sich wünschen, die Welt solle nach ihren Vorstellungen funktionieren.

  2. Ein Konstruktivist würde jetzt vermutlich argumentieren würde, dass „nass“ ebenfalls ein tradiertes gesellschaftliches Konzept ist, aber für mich liegt da nicht das Problem. Eher darin, dass es sehr schwierig ist, Offensichtliches von Vorurteilen zu unterscheiden. Und damit auch, den Ursprung der Probleme in der Erklärung oder dem Offensichtlichen zu suchen.
    Aber ganz ehrlich verstehe ich nur die Hälfte des von Ihnen vorgestellten Konzeptes. Sie gehen davon aus, dass nicht viele die Einsicht haben, dass nicht alles erklärt werden muss? Und je weitreichender die Erklärung/Legitimation, desto diskriminierender ihre Anwendung?

  3. Ich habe den Eindruck, wir sind jeder von uns auf seine Weise beim gleichen Thema. Ich gehe wie Sie davon aus, dass es problematisch ist, zwischen dem, was man sehen kann und dem, was man hineininterpretiert (das nenne ich ‚erklären‘) zu unterscheiden. Dass es da Unterschiede gibt, kann man lernen, meine ich.

    Ich meine feststellen zu können, dass Menschen ihre Erklärungen im allgemeinen für das halten, was sie sehen. Dies scheint im alltäglichen Leben wie in den Wissenschaften üblich zu sein. Je weitreichender die Erklärungen bzw. Schlussfolgerungen sind, desto mehr gerät m.E. aus dem Blick, was man gesehen hat und dies hat negative Folgen (Probleme).

    Hier ein Beispiel:
    Einem gelähmten, bewegungs- und sprechunfähigen Menschen wurden zwecks Kommunikation 10 Wörter zum Lesen gegeben. Über Elektroden wurde der Proband mit einem Sprachcomputer verbunden, der die Muster jedes einzelnen Wortes ermittelte, mit dem Ziel das Muster jedes einzelnen Wortes wieder zu erkennen, wenn der Proband daran denken würde und es in Sprache umzuwandeln. Die Worte waren: ja, nein, heiß, kalt, hungrig, durstig, hallo, auf Wiedersehen, mehr und weniger. Zwei Ergebnisse dieses Experimentes waren: Unter jeweils 2 Wörtern wurde mit einer Wahrscheinlichkeit von 76 % bis 90 % jeweils eines zutreffend identifiziert. Kamen alle 10 Wörter in Betracht war die Wahrscheinlichkeit der Treffer zwischen 28 % und 48 %. In einem Blogger-Artikel über dieses Experiment stand u.a.: „Das Experiment zeigt, dass es möglich ist, die elektrischen Signale des Gehirns in Worte umzuwandeln …“ Dies ist aus meiner Sicht eine sehr weitreichende Erklärung, bzw. Die Ergebnisse des Experimentes werden m.E. in der Sache unzutreffend überschritten.
    Derartige Resümees tauchen m.E. im Alltag unter „Erfahrung“ auf und in den Wissenschaften werden sie unter „Wissen“ verbucht. Ein interessierter Laie könnte letzteres – beruhigt darüber, informiert zu sein – für sich unbedenklich verwenden.

    Menschen brauchen Erklärungen. Ich nehme mich da nicht aus. Erklärungen ermöglichen ‚handeln‘. Mir geht es nur – wie Ihnen – darum, zwischen ‚erklären‘ und ‚beschreiben‘ dessen, was ich sehen kann, zu unterscheiden. Ich möchte mir darüber Rechenschaft ablegen können, dass und wie meine Sichtweise auf Dinge und Sachverhalte mein ‚reden‘ darüber und ‚handeln‘ verändert.

    Bei mir führte mein entsprechendes Resümee darüber dazu, dass ich intensiv immer wieder hinsehe – bevor ich vorschnell fertigen Erklärungen folge – und dies einschließlich aller möglichen eigenen und anderer Sichtweisen und Kenntnisse verarbeite. Auf diese Weise entsteht bei mir so etwas wie spontane Handlungsfähigkeit. Ob dann mein ‚handeln‘ in einer bestimmten Situation etwas besser als vorher hat funktionieren lassen, finde ich durch nachfolgendes ‚hinsehen‘ wieder heraus. Am wohlsten fühle ich mich, wenn es mir gelingt, jeden Schritt zu einem ersten werden zu lassen.

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